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Tagen ganz unbefangener, freier Unschuld und sorglosen
Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie ihrem Manne
entgegengehen, wie ihm eine Szene bekennen, die sie so gut
gestehen durfte, und die sie sich doch zu gestehen nicht
getraute? Sie hatten so lange gegen einander geschwiegen, und
sollte sie die erste sein, die das Stillschweigen bräche und eben
zur unrechten Zeit ihrem Gatten eine so unerwartete Entdeckung
machte? Schon fürchtete sie, die bloße Nachricht von Werthers
Besuch werde ihm einen unangenehmen Eindruck machen, und
nun gar diese unerwartete Katastrophe! Konnte sie wohl hoffen,
daß ihr Mann sie ganz im rechten Lichte sehen, ganz ohne
Vorurteil aufnehmen würde? Und konnte sie wünschen, daß er in
ihrer Seele lesen möchte? Und doch wieder, konnte sie sich
verstellen gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein
kristallhelles Glas offen und frei gestanden und dem sie keine
ihrer Empfindungen jemals verheimlicht noch verheimlichen
können? Eins und das andre machte ihr Sorgen und setzte sie in
Verlegenheit; und immer kehrten ihre Gedanken wieder zu
Werthern, der für sie verloren war, den sie nicht lassen konnte,
den sie leider! sich selbst überlassen mußte, und dem, wenn
er sie verloren hatte, nichts mehr übrig blieb.
Wie schwer lag jetzt, was sie sich in dem Augenblick nicht
deutlich machen konnte, die Stockung auf ihr, die sich unter
ihnen festgesetzt hatte! So verständige, so gute Menschen
fingen wegen gewisser heimlicher Verschiedenheiten unter
einander zu schweigen an, jedes dachte seinem Recht und dem
Unrechte des andern nach, und die Verhältnisse verwickelten
und verhetzten sich dergestalt, daß es unmöglich ward, den
Knoten eben in dem kritischen Momente, von dem alles abhing,
zu lösen. Hätte eine glückliche Vertraulichkeit sie früher wieder
einander näher gebracht, wäre Liebe und Nachsicht
wechselsweise unter ihnen lebendig worden und hätte ihre
Herzen aufgeschlossen, vielleicht wäre unser Freund noch zu
retten gewesen.
Noch ein sonderbarer Umstand kam dazu. Werther hatte, wie
wir aus seinen Briefen wissen, nie ein Geheimnis daraus
gemacht, daß er sich diese Welt zu verlassen sehnte. Albert
hatte ihn oft bestritten, auch war zwischen Lotten und ihrem
Mann manchmal die Rede davon gewesen. Dieser, wie er einen
entschiedenen Widerwillen gegen die Tat empfand, hatte auch
gar oft mit einer Art von Empfindlichkeit, die sonst ganz außer
seinem Charakter lag, zu erkennen gegeben, daß er an dem
Ernst eines solchen Vorsatzes sehr zu zweifeln Ursach' finde, er
hatte sich sogar darüber einigen Scherz erlaubt und seinen
Unglauben Lotten mitgeteilt. Dies beruhigte sie zwar von einer
Seite, wenn ihre Gedanken ihr das traurige Bild vorführten, von
der andern aber fühlte sie sich auch dadurch gehindert, ihrem
Manne die Besorgnisse mitzuteilen, die sie in dem Augenblicke
quälten.
Albert kam zurück, und Lotte ging ihm mit einer verlegenen
Hastigkeit entgegen, er war nicht heiter, sein Geschäft war nicht
vollbracht, er hatte an dem benachbarten Amtmanne einen
unbiegsamen, kleinsinnigen Menschen gefunden. Der üble Weg
auch hatte ihn verdrießlich gemacht.
Er fragte, ob nichts vorgefallen sei, und sie antwortete mit
Übereilung: Werther sei gestern abends dagewesen. Er fragte,
ob Briefe gekommen, und er erhielt zur Antwort, daß ein Brief
und Pakete auf seiner Stube lägen. Er ging hinüber, und Lotte
blieb allein. Die Gegenwart des Mannes, den sie liebte und ehrte,
hatte einen neuen Eindruck in ihr Herz gemacht. Das Andenken
seines Edelmuts, seiner Liebe und Güte hatte ihr Gemüt mehr
beruhigt, sie fühlte einen heimlichen Zug, ihm zu folgen, sie
nahm ihre Arbeit und ging auf sein Zimmer, wie sie mehr zu tun
pflegte. Sie fand ihn beschäftigt, die Pakete zu erbrechen und zu
lesen. Einige schienen nicht das Angenehmste zu enthalten. Sie
tat einige Fragen an ihn, die er kurz beantwortete, und sich an
den Pult stellte, zu schreiben.
Sie waren auf diese Weise eine Stunde nebeneinander
gewesen, und es ward immer dunkler in Lottens Gemüt. Sie
fühlte, wie schwer es ihr werden würde, ihrem Mann, auch wenn
er bei dem besten Humor wäre, das zu entdecken, was ihr auf
dem Herzen lag; sie verfiel in eine Wehmut, die ihr um desto
ängstlicher ward, als sie solche zu verbergen und ihre Tränen zu
verschlucken suchte.
Die Erscheinung von Werthers Knaben setzte sie in die größte
Verlegenheit; er überreichte Alberten das Zettelchen, der sich
gelassen nach seiner Frau wendete und sagte: »Gib ihm die
Pistolen.« »Ich lasse ihm glückliche Reise wünschen.« sagte er
zum Jungen. Das fiel auf sie wie ein Donnerschlag, sie
schwankte aufzustehen, sie wußte nicht, wie ihr geschah.
Langsam ging sie nach der Wand, zitternd nahm sie das Gewehr
herunter, putzte den Staub ab und zauderte, und hätte noch
lange gezögert, wenn nicht Albert durch einen fragenden Blick
sie gedrängt hätte. Sie gab das unglückliche Werkzeug dem
Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu können, und als der zum
Hause hinaus war, machte sie ihre Arbeit zusammen, ging in ihr
Zimmer, in dem Zustande der unaussprechlichsten Ungewißheit.
Ihr Herz weissagte ihr alle Schrecknisse. Bald war sie im
Begriffe, sich zu den Füßen ihres Mannes zu werfen, ihm alles zu
entdecken, die Geschichte des gestrigen Abends, ihre Schuld
und ihre Ahnungen. Dann sah sie wieder keinen Ausgang des
Unternehmens, am wenigsten konnte sie hoffen, ihren Mann zu
einem Gange nach Werthern zu bereden. Der Tisch ward
gedeckt, und eine gute Freundin, die nur etwas zu fragen kam,
gleich gehen wollte und blieb, machte die Unterhaltung bei
Tische erträglich; man zwang sich, man redete, man erzählte,
man vergaß sich.
Der Knabe kam mit den Pistolen zu Werthern, der sie ihm mit
Entzücken abnahm, als er hörte, Lotte habe sie ihm gegeben. Er
ließ sich Brot und Wein bringen, hieß den Knaben zu Tische
gehen und setzte sich nieder, zu schreiben.
»Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub
davon geputzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt!
Und du, Geist des Himmels, begünstigst meinen Entschluß, und
du, Lotte, reichst mir das Werkzeug, du, von deren Händen ich
den Tod zu empfangen wünschte, und ach! nun empfange. O ich
habe meinen Jungen ausgefragt. Du zittertest, als du sie ihm
reichtest, du sagtest kein Lebewohl! Wehe! wehe! kein
Lebewohl! Solltest du dein Herz für mich verschlossen haben,
um des Augenblicks willen, der mich ewig an dich befestigte?
Lotte, kein Jahrtausend vermag den Eindruck auszulöschen! und
ich fühle es, du kannst den nicht hassen, der so für dich glüht.«
Nach Tische hieß er den Knaben alles vollends einpacken, zerriß
viele Papiere, ging aus und brachte noch kleine Schulden in
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